“Sehnsucht ist die Tinte für unsere Geschichten”

Manchmal mischen sich Kunst und Wirklichkeit so sehr, als hätte sie jemand zusammengestrickt. An einem Abend im September war ich in der Elbphilharmonie in Hamburg, um Benedict Wells und Thees Ullmann zu lauschen. Benedict Wells Bücher hatte ich alle in den vergangenen Jahren verschlungen. Er schreibt so Sätze wie diese: “Es gab Dinge, die ich nicht sagen, sondern nur schreiben konnte. Denn wenn ich redete, dann dachte ich, und wenn ich schrieb, fühlte ich” (aus: Vom Ende der Einsamkeit). Auch Thees Uhlmannns Buch “Sophia, der Tod und ich” hatte ich gern gelesen. An ihm kommt man in Hamburg ohnehin nicht vorbei. Er ist einer dieser besonderen Jungs dieser Stadt: große Klappe, noch größeres Herz. Zusammen wirkten die beiden auf der Elphi-Bühne wie der schüchterne Streber und der mitreißende Entertainer, Poet und Popmusiker. Sie erzählten mit einer schönen Mischung aus Melancholie und Euphorie von Liebe und Tod, mal laut, mal leise. Der Abend klang noch in mir nach, die Texte, die Musik, die Neckereien der beiden Männer. Ich wollte ausführlich über diesen Abend hier schreiben, vor allem über die klugen Sätze von Benedict Wells, der über sein Schreiben gesprochen hatte, der sagte, man könne aus Erfahrung schreiben oder aus Sehnsucht, manchmal brauche man für das Schreiben auch eine Maske, um die eigenen Erfahrungen zu teilen. Über Thees Uhlmann, der mit dem Titel “Sehnsucht ist die Tinte unserer Geschichten” gleich eine Platte draus machen wollte, schon deshalb, weil er den Titel so super fand. Aber ich kam nicht zum Schreiben, zwei Tage später starb eine meiner engsten Freundinnen. 

Es hatte sich abgezeichnet, sie ist 103 Jahre alt geworden. Durch ihren Tod drehte sich der Abend in meiner Erinnerung. Ich musste an Thees denken, wie er von seiner Tante Trudl in Amerika erzählt hatte, die er besucht und beim Abschied weiß, dass es das letzte Mal ist: “Tante Trudl war der erste Mensch, von dem ich mich verabschiedete und wusste, dass ich sie nicht wiedersehen würde”. Ich hatte es bei meinem letzten Besuch bei meiner Freundin auch geahnt, dass sie bald stirbt. Und trotzdem hatte ich auf ein Wiedersehen gehofft.  An einem anderen leisen Moment hatte Thees seine Gitarre hochgerissen und gesagt: “Bevor es jetzt zu traurig wird: Gedanken, Gefühle und Erinnerungen fahren auf der Rückbank immer mit, das ist eine ganze Menge wert”. So wahr, die Erinnerung an die, die schon sterben mussten, begleiten uns überall hin. 

Benedict, dem der Tod schon häufig begegnet ist, hatte den Abend eröffnet mit einer Frage, an die ich seitdem oft denke: “Kann man etwas zurückbekommen, wenn man etwas verloren hat?” 

Ich hatte mit diesem Abend vorab etwas geschenkt bekommen: viele sehr tröstliche Gedanken von Benedict Wells und Thees Ullmann und eine unglaubliche Energie von 2000 Menschen aus diesem großen Saal der Elbphilharmonie. Noch ein Satz dazu aus “Vom Ende der Einsamkeit”: “Das Gegengift zu Einsamkeit ist nicht das wahllose Zusammensein mit irgendwelchen Leuten. Das Gegengift zu Einsamkeit ist Geborgenheit”. 

Geborgen in Literatur und Musik

Eure Winnie Heescher 


*Simon Frontzek: Keyboard / Rudi Maier: Gitarre und Schlagzeug

** auf dem Blog von Diogenes schreibt Benedict Wells selbst über diesen Abend in der Elphi: https:/www.diogenes.ch/leser/blog/2022/09/benedict-wells-liest-in-der-elbphilharmonie-in-hamburg.html