“Wenn Du Dich umdrehst und auf die Jahre zurückblickst, erkennst Du die Geister anderer Leben, die du hättest führen können. Deine Häuser werden von den Personen heimgesucht, die du hättest sein können. Geister und Phantome kriechen unter deine Teppiche und ins Gewebe deiner Vorhänge, sie lauern in Schränken und liegen flach unter dem Schubladenpapier. Du denkst an die Kinder, die du hättest bekommen können, aber nicht bekommen hast. Wenn die Hebamme sagt: Es ist ein Mädchen. Wohin geht dann der Junge? Wenn du denkst, du bist schwanger, und dann bist Du es nicht, was ist dann mit dem Kind, das in deinem Kopf bereits Form angenommen hat? Das alles hast Du in einer Schublade deines Unterbewußtseins abgelegt, wie eine Kurzgeschichte, die nach den ersten Sätzen nicht funktionieren wollte.“
Dieses Zitat stammt aus der Autobiographie „Von Geist und Geistern“ von Hilary Mantel. Die Schriftstellerin und Kritikerin ist vor wenigen Wochen gestorben, ich habe diese traurige Nachricht erst jetzt gelesen. Sie litt zeit ihres Lebens an Endometriose, einer chronischen Krankheit, die es vielen verwehrt, Kinder zu bekommen, und so schwere Schmerzen verursacht, dass Frau Tage im Bett verbringen muss. Mir ist das Zitat haften geblieben, weil es daran erinnert, dass auch unerfüllte Träume ein Recht auf Trost haben.
Hilary Mantel: Von Geist und Geistern. Dumont Verlag. 240 Seiten. 10,99 Euro Taschenbuch. Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence.